Wie die “Schuld” den Verbraucher:innen zugeschoben wird. Das Problem mit den Studien

von | 28. Jan 2021 | Hintergründe | 0 Kommentare

Versucht man, sich über Lebensmittelverschwendung zu informieren, ist man mit einer Vielzahl von voneinander abweichenden Zahlen und Einschätzungen konfrontiert. Um einen Überblick zu gewinnen, muss jede Studie mit ihren Fragestellungen, Definitionen und Inhalten zunächst eingehend betrachtet werden. Des Weiteren müssen die Auftraggeber:innen und deren Interessen berücksichtigt und schließlich die Ergebnisse auf Plausibilität geprüft werden. Diese Aufgabe ist zeitaufwendig und erfordert Fachwissen. Daher haben wir mit Journalist, Autor („Die Essensvernichter“ (2012), das Buch zum Film „Taste the Waste“) und Medienberater Stefan Kreutzberger gesprochen, der sich seit Jahren intensiv mit den bisher erfassten Daten zu Lebensmittelverschwendung auseinandersetzt und diese einordnet.

Hallo Stefan, bei der WWF Studie (2015) ist von 18 Mio. Tonnen verschwendeten Lebensmitteln in Deutschland die Rede, bei der Stuttgarter Studie (2012) nur von knapp 13 Mio. Tonnen. Wie kommt es zu diesen unterschiedlichen Angaben?

Zunächst einmal wurden unterschiedliche Dinge betrachtet: Die Stuttgarter Studie, eine Auftragsarbeit des Landwirtschaftsministerium, hatte die Anordnung, die Landwirtschaft auszuklammern – diese sollte später gesondert betrachtet werden. Daher ist die Gesamtzahl der erfassten Tonnen im Vergleich zur WWF-Studie, welche die Landwirtschaft mit einbezieht, viel geringer, und die prozentuale Verteilung ist auch eine andere. Darüber hinaus besteht eine enorme Grauzone hinsichtlich der Zahlen im mittleren Feld der Lieferkette, sprich bei der Lagerung, dem Transport und der Produktion. Von der Ernährungsindustrie liegen also nur grobe Schätzungen und keine belegbaren Zahlen vor. Schaut man sich die Rechnungen genauer an, zeigt sich, dass hier mit dem Faktor zehn gerechnet wird. Das bedeutet, die angenommenen Ergebnisse können zehn mal höher sein, also ein völlig anderes Bild ergeben.

Wie aussagekräftig ist ein Vergleich der Zahlen denn dann überhaupt noch?

Generell sollten alle Zahlen mit Vorsicht betrachtet werden. Erstmal muss definiert werden, was Lebensmittel sind. Absurderweise werden in der Stuttgarter Studie nur geerntete Nahrungsmittel als Lebensmittel erfasst (Seite 12). Demnach sind reife Äpfel am Baum keine Lebensmittel.
Ein anderes Beispiel: Platzt spontan ein Auftrag für ein Feld voller frischer Salatköpfe, bekommen die Landwirte eine Abfindung vom Vertragspartner – wenn sie kurzfristig keinen anderen Abnehmer finden, ist es für sie jedoch billiger, die Salate einfach “schnell” unterzupflügen, anstatt mit mehr Zeitaufwand das Feld abzuernten. Diese sogenannten „Vorernteverluste“ sind per Definition keine Lebensmittelverschwendung und werden bisher noch in keiner Statistik erfasst. Die Europäische Union hat nun über das Abfallwirtschaftsgesetz angeordnet, dass bis 2021 eine einheitliche Übersicht dieser Zahlen eingeholt werden muss, da sie für die Statistik relevant sind. 

In zweiter Ebene muss geklärt werden, was vermeidbare und was nicht vermeidbare Lebensmittelverluste sind. Kartoffelschalen beispielsweise eignen sich wunderbar, um leckere Kartoffelchips herzustellen. Die Definition für vermeidbare und nicht vermeidbare Lebensmittelverluste müsste für jedes Produkt genau erörtert und transparent gemacht werden. Dabei ist es auch essentiell zu betrachten, wie viele Ressourcen, also Energie, in die Lebensmittel geflossen sind. Ein Kilo Huhn im Vergleich zu einem Kilo Kartoffeln wegzuschmeißen, ist natürlich weitaus dramatischer, da mehr Ressourcen verbraucht wurden.

Fasst man diese Erkenntnisse zusammen, entsteht also ein falsches Bild der prozentualen Verteilung hinsichtlich der Verursacher:innen von Lebensmittelverschwendung, richtig?

Die Stuttgarter Studie definiert Verbraucher:innen mit 61 Prozent als Hauptverschwender:innen von Lebensmittelabfällen insgesamt; so wurde es auch in der Pressemitteilung veröffentlicht. Erst weiter unten in der Studie wird dann eingeräumt, dass die Zahlen relativ zu sehen sind, in der Pressemitteilung ist davon natürlich keine Rede. Obwohl wir noch im selben Jahr auf dieses unseriöse Vorgehen hingewiesen haben, hält sich der Irrglaube bis heute, die Hauptverursacher:innen von Lebensmittelverschwendung seien nach wie vor die Verbraucher:innen, durch neue Forschungsergebnisse jetzt relativiert auf 55 Prozent (2015). Daher wurde von dem Landwirtschaftsministerium auch die Aktion „Zu gut für die Tonne“ ins Leben gerufen, die sich in erster Linie an Verbraucher:innen richtet und nicht an die gesamte Lieferkette. Nach und nach wurde dann auch die Gastronomie mit einbezogen. Das Grundproblem jedoch, wieso wir eine so hohe Überproduktion haben, wird nicht bearbeitet.

Was kann gegen Lebensmittelverluste in der Produktionskette getan werden?

Die entscheidende Größe, die etwas tun könnte, ist der Lebensmitteleinzelhandel. In der Stuttgarter Studie wurde er zunächst mit fünf, jetzt mit vier Prozent (bezogen auf Lebensmittelverschwendung in Kilos) als scheinbar kleinster Faktor bei der Verursachung von Lebensmittelverschwendung definiert. Von hier aus könnte verändert werden, was verkauft wird, nämlich nicht nur “perfekt und identisch” aussehende Lebensmittel, sondern auch krumme Möhren und zu kleine Kartoffeln – so könnte das, was am Anfang der Kette weggeschmissen wird, vermieden werden. An gewissen Stellen macht der Handel das ja bereits, zum Beispiel anhand von Ein-Kilo-Apfelsäcken namens „Krumme Dinger“, in denen zu 25% auch kleine und „knorzelige“ Exemplare enthalten sein dürfen. Wenn der Handel solche Waren jedoch nicht anbietet, wo sollen Verbraucher:innen sie dann erwerben? Organisationen wie Foodsharing oder The Good Food fahren aufs Feld und ernten das liegengebliebene Gemüse, aber das kann man nicht von den Verbraucher:innen verlangen.

Welche prozentuale Verteilung hinsichtlich der Verursachung von Lebensmittelverschwendung wäre denn eine angemessenere Einschätzung?

Wie gesagt, müssen alle Zahlen mit Vorsicht betrachtet werden, denn auch die WWF-Studie arbeitet mit den bereits genannten problematischen Definitionen und groben Schätzungen in Bezug auf die Ernährungsindustrie. Ihre Ergebnisse gehen dennoch in eine realistischere Richtung. Meiner Einschätzung nach haben Produktion und Handel etwa 60-70% und Verbraucher:innen 30-40% der Lebensmittelverschwendung zu verantworten.

Wo siehst du die Gründe für Lebensmittelverschwendung innerhalb der Produktionskette?

Angefangen mit der Definitionsklärung, landet man schnell beim darüber liegenden Problem: den EU-Agrarsubventionen, welche sich lediglich auf die Fläche beziehen. Je mehr Fläche ein Bauer besitzt, desto mehr Geld fließt. Das kann so weit gehen, dass teilweise Felder bepflanzt, jedoch nicht geerntet werden. Die Subventionen und das Wegschmeißen eines Teils der möglichen Ernte bringt dann mehr Geld ein, als das Abernten und Verkaufen der Lebensmittel. Lebensmittelverschwendung und Nachhaltigkeit spielen leider keine Rolle bei der Ausgabe der Fördergelder. Die Agrarsubventionen sind der größte Einzelposten im Fördertopf des EU-Haushalts (2019: 6,7 Milliarden Euro), und der wird ausgeschüttet an große Firmen, Großgrundbesitzer, die auf Monokulturen setzen und sich nicht für Bioanbau oder Nachhaltigkeit interessieren. Sie besitzen die größte Lobby und können kaum noch als Bauern bezeichnet werden, vielmehr als Agrarinvestoren. Wenn man über Lebensmittelverluste spricht, muss man auch über europäische Agrarpolitik reden.

Danke, Stefan, für deine Auskunft und dein Engagement gegen Lebensmittelverschwendung!

 

Letzte Beiträge

Knusprig und cremig: Pastinaken aus dem Ofen

Knusprig und cremig: Pastinaken aus dem Ofen

Pastinaken werden jetzt im Winter geerntet. Auch bei The-Good-Food liegen sie häufig im Regal. Wenn ihr sie seht: greift zu! Pastinaken können super lecker sein, besonders wenn sie im Ofen gebacken wurden. Hiert lest ihr, wie es geht.

Unsere Rechtsform: gUG

Unsere Rechtsform: gUG

Wir werden öfter nach unserer Rechtsform gefragt. Antwort: The Good Food ist eine gemeinnützige Unternehmergesellschaft (gUG). Im Artikel lest ihr, wie die gUG bei uns umgesetzt wird.